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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter December 15, 2022

Im „Wirbel des Seins“. Die Geburt der Geburt der Tragödie aus dem Geiste Friedrich Hebbels

  • Claus Zittel EMAIL logo
From the journal Nietzsche-Studien

Abstract

In the “Whirl of Being.” The Birth of The Birth of Tragedy from the Spirit of Friedrich Hebbel. As a result of dubious editorial policy, Nietzsche research has always dealt only with the text of the later editions of The Birth of Tragedy from 1874/78 and 1886, in the erroneous assumption that these largely resemble the first printing. Surprisingly, the 1872 edition is therefore virtually unknown. It does, however, show significant differences from the later editions, especially since it exhibits a strong influence of Hebbel’s tragic worldview that is later obscured in favor of Wagner. The first edition is more nihilistic, poetic, and powerful; Nietzsche’s later revisions have rather diluted the Birth of Tragedy’s argument and given it a different direction.

I 150 Jahre Geburt der Tragödie?

„zu immer neuen Geburten“

Zum 150. Jahrestag des Erscheinens von Nietzsches Geburt der Tragödie scheint es geboten nachzufragen, ob all jene, die zu diesem Jubiläum Vortragsreihen und Symposien veranstalten,[1] aber auch ob die Forscherinnen und Forscher, die seit über hundert Jahren unermüdlich neue Interpretationen zu diesem für die Moderne so folgenreichen Text vorlegen, sich tatsächlich mit jenem Buch beschäftigen, das 1872 erschien. Denn man muss davon ausgehen, dass wer heute Nietzsches Tragödienschrift zur Hand nimmt, zumeist vertrauensvoll zu jenen posthumen Editionen greift, die Giorgio Colli und Mazzino Montinari in ihren Ausgaben KGW und KSA besorgten, oder zu Übersetzungen, die auf ihnen basieren. Wir alle meinen, und ich tat dies stets auch, dass dies seine Richtigkeit habe, da die spätere Ausgabe der Geburt der Tragödie von 1886 ja nur um eine Vorrede ergänzt worden sei, während außer der Änderung des Werktitels im Wesentlichen der Text der Erstausgabe getreu übernommen wurde.[2] Somit müsste man sich nur klarmachen, welche Paratexte neu dazu kamen, wegfielen oder modifiziert wurden. Welch ein Irrtum!

Montinari kombinierte nicht die erste Ausgabe von 1872, sondern die zweite Auflage von 1878 mit der dritten von 1886 und er folgte dabei seinen Vorgängern. Weder die KGW und KSA, noch die Gesamtausgabe (GAK), Großoktav- (GOA) und Musarionausgabe (MusA) oder die Werkedition Karl Schlechtas (SA),[3] ja bislang nicht einmal die eKGWB von Paolo D’Iorio,[4] bieten den Text des Erstdrucks, dessen anderen Wortlaut sie bestenfalls als „Lesarten“ bzw. „Varianten“ versteckt in den Nachberichten mitteilen.[5] Doch sind es nur Lesarten? Der Ausdruck „Lesarten“ klingt harmlos, so als könnte man etwas anders lesen, was aber so, wie es dasteht, eigentlich richtig sei. Wie ich im Folgenden zeigen werde, lesen wir, wenn wir die Erstausgabe der Geburt der Tragödie zur Hand nehmen, keine Variante des uns vertrauten Textes, sondern einen anderen Text. Frappanterweise ist dieser Erstdruck in wichtigen Teilen selbst unter Nietzsche-Spezialisten unbekannt, was daran liegen mag, dass es bis heute von ihm keinen Nachdruck gibt[6] und die verdienstvollen online-Präsentationen im Deutschen Textarchiv,[7] der Klassik-Stiftung Weimar[8] sowie der Basler und Göttinger Universitätsbibliotheken[9] kaum Beachtung zu finden scheinen.

II Drucke, Revisionen, Neuausgaben

Vor dem Textvergleich sei ein kursorischer Überblick über die hinlänglich bekannte Druckgeschichte[10] gegeben: Im Laufe seiner 1869 beginnenden Studien zur Entstehung der griechischen Tragödie arbeitet Nietzsche zwei Vorträge (Das griechische Musikdrama und Sokrates und die Tragödie) aus, von denen letzterer in revidierter Gestalt als „Manuskript für Freunde“ gedruckt wurde[11] und später mit stilistischen Änderungen in die Abschnitte 8–15 der Geburt der Tragödie einging. Mitte Februar bis Mitte April 1871 verfasst er verschiedene umfassende Entwürfe zur Geburt der Tragödie, von denen die wichtigsten eine eigenhändig ins Reine geschriebene Abhandlung mit dem Titel Ursprung und Ziel der Tragödie (= UZ, Heft U I2)[12] sowie ein mit Musik und Tragödie überschriebenes Manuskript sind, die als Grundlage für das spätere Druckmanuskript dienten, das Ende 1871 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig gesetzt und gedruckt wurde, um schließlich unter dem Titel Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Anfang Januar 1872 im Verlag E. W. Fritzsch in Leipzig zu erscheinen.[13]

Im Februar 1874 wurde das Buch, noch ehe die Exemplare des ersten Druckes vergriffen waren, bei C. G. Naumann in Leipzig neu gedruckt. Nietzsche hatte die erste Ausgabe zuvor an seinen Freund Erwin Rohde geschickt, der sie gründlich durchsah und seine Korrekturen und stilistischen Verbesserungsvorschläge an Nietzsche sandte (Rohde an Nietzsche, 12. Januar 1873, Nr. 400, KGB II 4.168). Nietzsche ließ daraufhin in sein Handexemplar des ersten Drucks mit Bleistift eine Reihe nicht nur stilistischer, sondern auch den Sinn tangierender Änderungen von fremder Hand (offenbar aber nicht von Rohde) direkt im Text eintragen. Einige umfänglichere Korrekturen wurden zudem auf darüber geklebten Zetteln ebenfalls von fremder Hand notiert (Dm2N, vgl. KGW III 5/1.303 ff.).[14] Im Anschluss trug Nietzsche eigenhändig die Korrekturen mit Bleistift in ein zweites Handexemplar ein, das als Vorlage für die Überarbeitung des Neudrucks diente, jedoch nicht als Muster für die Gestaltung der zweiten Auflage, die neu gesetzt wurde. Text und Erscheinungsbild des zweiten Drucks unterscheiden sich daher erheblich vom ersten.

Die 1874 gedruckte zweite Auflage kam erst im September 1878 mit entsprechender Jahreszahl in den Handel. Schmeitzner hatte hierfür in Chemnitz die Restexemplare der Geburt der Tragödie aufgekauft und auf die von ihm übernommene Titelseite einen Zettel mit seinem Verlagsnamen geklebt. Das verspätete Erscheinen ist insofern von Bedeutung, als beim ersten Überarbeiten 1873 Nietzsche den Bruch mit Wagner noch nicht vollzogen hatte, sondern, wie zu zeigen sein wird, seine Huldigungen verstärkte. Als die zweite Auflage 1878 tatsächlich erschien, passte ihr Text nicht mehr zur aktuellen Beziehungslage. Jedenfalls lieferte Schmeitzner 1878 170 Restexemplare der ersten und 750 Exemplare der zweiten Auflage gleichzeitig aus.[15] Auch diese zweite Auflage fand kaum Absatz.

Als Nietzsches Verleger Fritzsch im August 1886 dessen Werke von Schmeitzner zurückkaufte, wurden die noch vorhandenen Exemplare beider Drucke der Geburt der Tragödie mit einem im August 1886 in Sils Maria geschriebenen „Versuch einer Selbstkritik“ versehen. Nicht aber wurde, wie Montinari behauptet (vgl. KSA 14.43), und worin ihm auch der neue Nietzschekommentar[16] folgt, das „Vorwort an Richard Wagner“ entfernt.

Das Buch erschien im November dieses Jahres mit dem veränderten Titel Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus. Neue Ausgabe mit dem römisch paginierten Versuch einer Selbstkritik, ohne Jahreszahl und ohne Prometheus-Vignette.[17]

Der neue Titel verändert, zumal im Verein mit der vorangestellten Selbstkritik, markant die Grundausrichtung des Buches: Nicht mehr proklamiert er – eine mögliche Renaissance des Tragischen durch Wagners Musikdramen noch offenhaltend –, dass die Tragödie „aus dem Geiste der Musik“ entspringe,[18] sondern benennt den Pessimismus der Griechen als ursächlich für ihren Geburtsakt. Mit dem Umtaufen der Erstlingsschrift überschreitet Nietzsche erkennbar den Bereich des Ästhetischen hin zu allgemein kulturphilosophischen und anthropologischen Überlegungen über das Griechentum, aus dessen heroischem Pessimismus fortan schwerlich Hoffnungen auf eine Wiedergeburt der tragischen Kultur im gegenwärtigen Zeitalter abgeleitet werden können – allenfalls wäre eine Brücke zu Nietzsches später Vision eines „aktive[n] Nihilismus“ (Nachlass 1886/87, 5[71], KSA 12.216) in der Moderne zu schlagen.

Abb. 1–3: Titelblätter zur Geburt der Tragödie 1872, 1878, 1886
Abb. 1–3: Titelblätter zur Geburt der Tragödie 1872, 1878, 1886
Abb. 1–3: Titelblätter zur Geburt der Tragödie 1872, 1878, 1886
Abb. 1–3:

Titelblätter zur Geburt der Tragödie 1872, 1878, 1886

Halten wir fest: Die Ausgabe ,letzter Hand‘ der Geburt der Tragödie erscheint nicht in einheitlicher Gestalt, sondern der Versuch einer Selbstkritik wird sowohl den Restexemplaren des Erstdrucks[19] und des Zweitdrucks vorangestellt. Es gibt also zu Nietzsches Lebzeiten drei Auflagen und vier (von ihm autorisierte) gedruckte Versionen der Geburt der Tragödie.[20] Die zweite und dritte Ausgabe der Geburt der Tragödie sind stets die Textzeugen für die späteren Werkeditionen, nie die Erstausgabe. Bei den heute lieferbaren Ausgaben sehen wir uns also Verwirrung stiftenden editorischen Hybriden gegenüber, die den Text von 1886/1878 entweder mit den Titeln von 1872 oder 1886 darbieten oder wie die KGW/KSA als gemeinsamen kleinen Nenner die so niemals autorisierte Kurzversion Die Geburt der Tragödie wählen.

III Wandel der Textphysiognomie

Doch warum betrieb Nietzsche eine zweite Auflage, obwohl die erste noch lieferbar war? Und worin bestehen die Änderungen? Betrachten wir zunächst, bevor wir uns mit den inhaltlichen Abweichungen befassen, die vermeintlichen Äußerlichkeiten, uns dabei vergegenwärtigend, dass sich Nietzsche von Anfang an mit äußerster Sorgfalt um das typographische Erscheinungsbild seiner Bücher kümmerte.[21]

Die Wahl des Verlags E. W. Fritzsch war nicht zufällig, denn hier veröffentlichte Richard Wagner seine Schriften.[22] Diese jedoch sahen mehrheitlich ganz anders aus, da sie in deutscher Frakturschrift gesetzt waren, die nach der Reichsgründung 1871 in Deutschland zur offiziellen Amtsschrift erklärt wurde. Eine Ausnahme stellte Wagners kurz zuvor 1871 in lateinischen Lettern gedruckter Vortrag Ueber die Bestimmung der Oper[23] dar. Werner Ross hat daher behauptet, dass Nietzsche die Geburt der Tragödie nach dem Vorbild dieser Ausgabe „mit dem gleichen Papier, im gleichen Druck, vor allem aber, wie beim Meister, durch eine Titelvignette“[24] ausgestattet sehen wollte, und es gibt auch zwei Briefe Nietzsches, die dies in etwa so erklären.[25] Doch zierte weder eine Titelvignette Wagners Schrift noch glich ihr Druckbild jenem der Geburt der Tragödie. In Antiqua wurden gewöhnlich akademische Abhandlungen gedruckt, während Zeitungen und Klassikerausgaben in Fraktur erschienen, weshalb sich Nietzsche immer wieder Gedanken darüber machte, welche Leseeffekte mit der dem allgemeinen Publikum unvertrauten Antiqua-Schrift einhergehen. Er meinte, es sei ein Vorteil, dass die ungewohnte lateinische Schrift den Lektürefluss verlangsamt, verdächtigte später dann aber diese Schrifttype, am schlechten Absatz seiner Bücher mit Schuld zu sein.[26] Ohnehin ist die Wahl der Antiqua für einen Druck in einem Musik-Verlag nicht selbstverständlich. Noch bemerkenswerter ist, dass auch wenn Nietzsche sich zwar am Druck von Wagners Vortrag bei Fritzsch orientiert haben mag, er dennoch nicht die gleiche, ziemlich sperrig anmutende Antiqua-Variante mit besonders auffälligen serifenlosen Grotesk-Versalien für den Haupttitel verwendete, sondern eine viel elegantere, schmalere Mediäval-Schrift[27] mit abgerundeten Übergängen zu den Serifen wählte, eine typische Renaissance-Antiqua. Erstaunlich ist auch, dass der Titel in unterschiedlichen Schriftgrößen und Stärken gesetzt wird und so der finale Teil „aus dem Geiste der Musik“ durch die unruhige und magerere Zierschrift fast zu zittern scheint. In ostentativem Kontrast aber zu Wagners Schrift, die deutsche Anführungszeichen verwendet, wartet die von Nietzsche für den Haupttext gewählte Antiqua mit französischen Guillemets auf, genauer gesagt mit Chevrons, also den mit der Spitze nach innen gekehrten und im Deutschen als „Mövchen“ oder Gänsefüßchen bekannten Anführungszeichen. Der Ausdruck „Gänsefüßchen“ kam auf, weil die mit den Spitzen nach innen gerichteten Guillemets an den Abdruck von Gänsefüßen erinnerten. Für einen ‚Philosophen der Gänsefüßchen‘ (Nachlass 1885, 37[5], KSA 11.580)[28] macht es daher einen Unterschied, ob französisch anmutende Gänsefüßchen oder deutsche Anführungszeichen zum Einsatz kommen.

Abb. 4: Wagners Ueber die Bestimmung der Oper 1871
Abb. 4:

Wagners Ueber die Bestimmung der Oper 1871

Abb. 1: Geburt der Tragödie 1872
Abb. 1:

Geburt der Tragödie 1872

Französische Anführungszeichen gelten zudem heute wie damals in der deutschen Buchtypographie als die schöneren. Statt dem vermeintlichen Vorbild getreu zu folgen, markiert Nietzsche mit dem Druckbild der Geburt der Tragödie dann doch einige kulturelle und ästhetische Differenzen und demonstriert zugleich subtil seinen überlegenen ästhetischen Geschmack, während im Vorwort der Philologe und Philosoph Nietzsche dem Künstler Wagner rhetorisch die Vorreiterrolle in aestheticis zuweist.

Abb. 5: Geburt der Tragödie 1872
Abb. 5:

Geburt der Tragödie 1872

Abb. 6: Geburt der Tragödie 1878
Abb. 6:

Geburt der Tragödie 1878

Die textästhetischen Unterschiede zwischen Wagners Schrift und Nietzsches Geburt der Tragödie (1872) werden dann jedoch mit dem Verlagswechsel zu Schmeitzner (1874/78) vermindert und diese Änderungen bei der Rückkehr zu Fritzsch in der dritten Ausgabe von 1886 nicht mehr zurückgenommen: Es änderten sich Zeilenzahl, Wortabstand, Satzspiegel und Absatzgestaltung, vor allem aber ersetzten nun doch deutsche Anführungszeichen die französischen,[29] vermutlich weil diese auf die in Wagner-Kreisen suspekte französische Kultur verwiesen. Texte in verschiedener Typographie sind jedenfalls nicht textidentisch,[30] und das veränderte Erscheinungsbild ist ein erstes Indiz dafür, dass die zweite Auflage noch stärker auf Wagner ausgerichtet wird. Dieser Eindruck wird sich verstärken, wenn die inhaltlichen Eingriffe in den Blick rücken.

IV Kritik und Korrektur

Bekanntlich unterzog Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff Nietzsches Erstlingsschrift einer vernichtenden altphilologischen Kritik, die etliche sachliche Fehler monierte; es hätte also einiges fachwissenschaftlich Relevante korrigiert werden können. Nietzsche war jedoch – auch bekräftigt durch Rohde („Mach’ nur den Nergeleien des Wilamowitz nirgends Concessionen: sonst freut sich der Schusterjunge“, Rohde an Nietzsche, 12. Januar 1873, Nr. 400, KGB II 4.168)[31] – fest entschlossen, an den Realia nichts zu ändern. Beispielsweise hatte ihn Wilamowitz-Moellendorff als einen Toren verhöhnt, „der eine wahrhaft kindische unwissenheit an den tag legt, so bald er etwas archäologisches berührt; er, der die satyrn, seine ‚tumben Menschen‘, mit bocksbeinen beglückt, der weder Pan noch Seilen noch satyr auseinander zu halten weiß.“[32]

Just diesen Vorwurf hatte Nietzsche Rohde gegenüber zunächst selbstbewusst zurückgewiesen:

Meine Satyr-auffassung gilt mir als etwas sehr Wichtiges in diesem Umkreis von Untersuchungen: und ist etwas wesentlich Neues, nicht wahr? – Sehr anstößig ist daß ich die Satyrn, in ihrer ältesten Vorstellung, bocksbeinig genannt habe: es ist aber gar zu dumm, sich dagegen einfach nur auf Archäologie usw. zu berufen. Denn die Archaeologie kennt nur den veredelten Typus aus dem Satyrspiel: vorher liegt die Vorstellung von den Böcken als den Dienern des Dionysus und von den Bockssprüngen seiner Verehrer. Die Bocksbeine sind das eigentl. Charakteristische der ältesten Vorstellung (16. Juli 1872, Nr. 239, KSB 4.23 f.).

In der zweiten Auflage ersetzte Nietzsche seinen charakterisierenden Vergleich „wie der bärtige bocksbeinige Satyr“ (GT 2, 1872, 8) nun doch durch die weitaus vorsichtigere Umschreibung: „wie der bärtige Satyr, dem der Bock Namen und Attribute verlieh“ (GT 2, KSA 1.32). Diese philologische Selbstkorrektur ist, da sie einen zentralen Punkt betrifft, durchaus wichtig, und wir haben uns zu vergegenwärtigen, dass wir in der KSA nicht mehr jenen Text vor Augen haben, den Wilamowitz kritisierte. Doch noch wichtiger sind Änderungen in der Grundausrichtung, und diese erfolgten nicht erst mit dem Titel der 1886-Ausgabe, sondern bereits 1874. Nur orthographische und stilistische Korrekturen gehen auf Änderungsvorschläge Erwin Rohdes zurück, dem Nietzsche versicherte:

Ich habe mit größtem Dank Deine reichliche Blüthenlese aus der ersten Auflage angenommen und ausnahmelos benutzt: möge ich es Dir in allem Recht gemacht haben. Eine kleine Umgestaltung der ersten drei Seiten war alles Umfänglichere, zu dem ich mich, bei der Correktur, verstehen konnte: sonst habe ich mancherlei in einzelnen Worten noch nachgebessert. Keine neue Vorrede, sondern alles, wie es war (31. Januar 1873, Nr. 294, KSB 4.119).

„Alles, wie es war“? Wie bereits notiert, hatte Nietzsche gegen Rohdes Rat stillschweigend dem Satyr seine Bocksbeine genommen, und noch Jahre später wünscht er sich von seinem Verleger „von der Geburt der Tragoedie ein Exemplar der 2. Auflage (die einiges Verschiedene von der ersten hat z. B. auf der 2.ten Seite des Textes ein Citat aus Wagners Meistersingern (anstatt des Epigramms von Hebbel)“ (Nietzsche an Fritzsch, 24. Juni 1887, Nr. 865, KSB 8.97).

V Die Spuren Hebbels 1: Dichten und Deuten

Es gibt also doch „einiges Verschiedene“. Wenn man eine Synopse der Versionen von erster und zweiter bzw. dritter Auflage erstellt, springen auf den ersten Blick die zahlreichen Abweichungen insbesondere zu Beginn des Textes ins Auge. Da sie die Exposition der ganzen Schrift betreffen, die den Rahmen für alles Weitere absteckt, berühren die Änderungen zweifellos die Substanz des Textes:

An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Kunst ein Stilgegensatz besteht; zwei verschiedene Triebe gehen in ihr neben einander her, zumeist im Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren: bis sie endlich, im Blüthemoment des hellenischen »Willens«, zu gemeinsamer Erzeugung des Kunstwerkes der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen.

An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen neben einander her, zumeist im offnen Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren, den das gemeinsame Wort „Kunst“ nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen „Willens“, mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.

[meine Unterstreichungen]

Abb. 7: Nietzsches Handexemplar der Geburt der Tragödie 1872 mit Änderungen von fremder Hand für die Geburt der Tragödie 1878 (DFGA/D-3ab,1a, GSA 71/4 © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, 2016)
Abb. 7:

Nietzsches Handexemplar der Geburt der Tragödie 1872 mit Änderungen von fremder Hand für die Geburt der Tragödie 1878 (DFGA/D-3ab,1a, GSA 71/4 © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, 2016)

Im Erstdruck war also nicht von der griechischen Welt als ganzer, sondern nur von der griechischen Kunst die Rede, und der Dualismus des Dionysischen und Apollinischen wurde als bloßer Stilgegensatz und nicht als fundamentaler Antagonismus gewaltiger Naturkräfte aufgefasst. Dazu passt, dass ein früheres, 148 Notizbuch-Seiten starkes Vorläufer-Manuskript zur Geburt der Tragödie noch im Untertitel den Bereich der Kunst adressiert: Ursprung und Ziel der Tragoedie. Eine aesthetische Abhandlung (KGW III 5/1.142–203).[33] Dieser Abhandlung hatte Nietzsche als Motto eine Maxime für Dichter von Friedrich Hebbel vorangestellt: „Laß dich tadeln für’s Gute und laß dich loben für’s Schlechte: / Fällt dir eines zu schwer, schlage die Leier entzwei“ (KGW III 5/1.142).[34]

Abb. 8: Ursprung und Ziel der Tragödie (DFGA/U-I-2,1 © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, 2016)
Abb. 8:

Ursprung und Ziel der Tragödie (DFGA/U-I-2,1 © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, 2016)

Die Ausgabe von 1872 war entsprechend zunächst als Beitrag zur Ästhetik, Dichtungs- und Kunsttheorie angelegt, die den dualistischen Ursprung der Tragödie aus einem Stilkonflikt erklärt, während nun in der zweiten Auflage ein längerer Zusatz klarstellt, dass die Kunst nur scheinbar den Konflikt von bildender Kunst und Musik in sich austrägt, da dieser tatsächlich einem metaphysischen Akt des Weltwillens entspringe. Die Argumentation wird also stärker auf die Philosophie ausgerichtet, auch um den Preis, dass im Verlauf des Textes Inkonsistenzen entstehen, etwa wenn im 8. Kapitel der Geburt der Tragödie weiterhin die Duplizität des Dionysischen und Apollinischen als Stilgegensatz expliziert wird.[35]

VI Die Spuren Hebbels 2: Traum und Poesie

Schlagen wir eine weitere Seite um, erkennen wir noch deutlicher, auf welche Weise Nietzsche ästhetische Fragen nun in allgemeinere philosophische Gefilde verschiebt:

Im Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lucretius, die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen, im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Gliederbau übermenschlicher Wesen, im Traume erfuhr der hellenische Dichter an sich, was ein tiefes Epigramm Friedrich Hebbels mit diesen Worten ausspricht:

Im Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lucretius, die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen, im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Gliederbau übermenschlicher Wesen, und der hellenische Dichter, um die Geheimnisse der poëtischen Zeugung befragt, würde ebenfalls an den Traum erinnert und eine ähnliche Belehrung gegeben haben, wie sie Hans Sachs in den Meistersingern giebt:

In die wirkliche Welt sind viele mögliche andre

Eingesponnen, der Schlaf wickelt sie wieder heraus,

Sei es der dunkle der Nacht, der alle Menschen bewältigt,

Sei es der helle des Tags, der nur den Dichter befällt;

Und so treten auch sie, damit das All sich erschöpfe,

Durch den menschlichen Geist in ein verflatterndes Sein.

Mein Freund, das grad’ ist Dichters Werk, dass er sein Träumen deut’ und merk’. Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn wird ihm im Traume aufgethan: all’ Dichtkunst und Poëterei ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.

[meine Unterstreichungen]

Wenn im Erstdruck sich dem Dichter im Traum das Unbewusste und Kosmische seines Schaffens unmittelbar offenbart, so ruft in der zweiten Fassung erst dessen Befragung in ihm die Erinnerung an den Traum auf, welche dann die Geheimnisse poetischer Produktivität enthüllt. Aus der Erfahrung einer Vision vieler flüchtiger, ineinander verwickelter Welten, die der Dichter an sich selbst erlebt und die entsprechend hier in den elegischen Distichen eines formvollendeten, turmschneckenartigen Epigramms ihren adäquaten Ausdruck findet, wird in der Überarbeitung ein Akt der Deutung, der der Poesie ihr Geheimnis nimmt.[36] Nun wird das „tiefe“ und zweifellos schöne „Epigramm Hebbels“, dessen Sinn sich ebenfalls erst nach mehreren überraschenden Wendungen sukzessive entspinnt, um in einer vieldeutigen Pointe zu münden, durch ebenso holprige wie flache Knittel-Verse aus den Meistersingern ausgetauscht, die keineswegs sinngleich sind.[37] Aus „Wahrtraum-Dichterei“ wird „Wahrtraum-Deuterei“.[38]

Abb. 9: Nietzsches Handexemplar der Geburt der Tragödie 1872 mit Korrekturzettel für die Geburt der Tragödie 1878 (DFGA/D-3ab,2, GSA 71/4 © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, 2016)
Abb. 9:

Nietzsches Handexemplar der Geburt der Tragödie 1872 mit Korrekturzettel für die Geburt der Tragödie 1878 (DFGA/D-3ab,2, GSA 71/4 © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, 2016)

Den Versen folgt ein neuer erläuternder Passus, der jetzt die philosophische Dimension der hier verhandelten Frage nach dem Verhältnis von Traum und Wirklichkeit hervorkehrt, während die Bedeutung der die Scheinwelt erzeugenden Dichtkunst als Analogon zum Traum zurücktritt. Vor allem aber verschwindet die 1872 getroffene Unterscheidung zwischen den wohltuenden Wirkungen des Traumes und den pathologischen Folgen eines Durchschauens des Scheines:

Wo diese Scheinempfindung völlig aufhört, beginnen die krankhaften und pathologischen Wirkungen, in denen die heilende Naturkraft der Traumzustände nachlässt. Innerhalb jener Grenze aber sind es nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder, die wir mit jener Allverständigkeit an uns erfahren: auch das Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Neckereien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze »göttliche Komödie« des Lebens, mit dem Inferno, zieht an uns vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel – denn wir leben und leiden mit in diesen Scenen – und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindung des Scheins: ja ich erinnere mich, in den Gefährlichkeiten und Schrecken des Traumes mir mitunter ermuthigend und mit Erfolg zugerufen zu haben:

Der philosophische Mensch hat sogar das Vorgefühl, dass auch unter dieser Wirklichkeit, in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liege, dass also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauer bezeichnet geradezu die Gabe, dass Einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge als blosse Phantome oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer Befähigung. Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für das Leben. Nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder sind es, die er mit jener Allverständigkeit an sich erfährt: auch das Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Neckereien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze „göttliche Komödie“ des Lebens, mit dem Inferno, zieht an ihm vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel – denn er lebt und leidet mit in diesen Scenen – und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindung des Scheins; und vielleicht erinnert sich Mancher, gleich mir, in den Gefährlichkeiten und Schrecken des Traumes sich mitunter ermuthigend und mit Erfolg zugerufen zu haben:

[meine Unterstreichungen]

Erst in der zweiten Auflage wird die fragile, aus der Wir-Perspektive des eigenen Erlebens geschilderte theatrale Relation von Künstler und Träumer explizit auf Schopenhauers Traumlehre bezogen und um eine fundamentalere Analogie mit dem die Wirklichkeit als bloßen Schein objektiv durchschauenden Philosophen ergänzt.[39]

Kehren wir noch einmal kurz zu Hebbels Epigramm zurück und machen uns bewusst, dass Nietzsche offenbar phasenweise dessen Einfluss auf die Geburt der Tragödie stark zu unterstreichen gedachte. Wie bereits erwähnt, hatte er ursprünglich ein Gedicht Hebbels als Motto der Geburt der Tragödie vorgesehen. Im Erstdruck erscheint dann gleich im ersten Kapitel ein weiteres Epigramm Hebbels, das sich in Form und Inhalt deutlich von der launigen „Belehrung“ des Hans Sachs unterscheidet, welche der Dichtung die Rolle zuweist, den „Wahn“[40] mit Hilfe der Traumdeutung aufzudecken. Dass der Mensch im Wahn befangen ist, ist eine Leitidee Schopenhauers, die von Wagner zum Plan genutzt wird, den Wahn mit Hilfe der Kunst zu lenken. Die von Wagner erstrebte Manipulation des Menschen durch die Musik ist Hebbel fremd. Stattdessen entfaltet sein Epigramm sukzessive eine allgemeine tragische Sicht auf die Welt, die in der sich im Traum enthüllenden, nihilistischen Einsicht kulminiert, als Mensch einem „verflatternden Sein“ ausgeliefert zu sein, und unsere Lebenswirklichkeit somit der ewig unbeständigen Traumwelt gleiche.

All das wird bei Hebbel unter der Gedichtüberschrift Traum und Poesie behandelt. Nietzsche zitiert allerdings nicht die vier Anfangsverse des Epigramms, die zunächst die essenzielle Verwandtschaft von Traum und Dichtung ähnlich wie in der Geburt der Tragödie durch deren gemeinsame Genealogie erklären, doch die bekannten Verse konnten von den Lesern leicht ergänzt werden:

Träume und Dichtergebilde sind eng miteinander verschwistert,

Beide lösen sich ab oder ergänzen sich still,

Aber sie wurzeln nicht bloß im tiefsten Bedürfnis der Seele,

Nein, sie wurzeln zugleich in dem unendlichen All.

In die wirkliche Welt sind viele mögliche andre

Eingesponnen, der Schlaf wickelt sie wieder heraus

Sei es der dunkle der Nacht, der alle Menschen bewältigt,

Sei es der helle des Tags, der nur den Dichter befällt,

Und so treten auch sie, damit das All sich erschöpfe,

Durch den menschlichen Geist in ein verflatterndes Sein.[41]

Die Dichtung also, nicht die Philosophie vermittelt die Erkenntnis in die Scheinhaftigkeit des unsteten Daseins. Die zunächst noch gut markierte Spur Hebbels wird indes mit der zweiten Ausgabe verwischt, und die Forschung hat seither fast gänzlich aus dem Blick verloren, dass der bedeutende Dramatiker, Dichter, Tragödientheoretiker und Dichterphilosoph[42] Friedrich Hebbel Nietzsche als ein wichtiger Kronzeuge (neben anderen) für seine Theorie des Tragischen dienen sollte.[43] Überhaupt ist die Bedeutung Hebbels für Nietzsches Tragödien-Auffassung nicht zu unterschätzen. Bereits sieben Jahre früher, als junger Student von zwanzig Jahren, hatte sich Nietzsche vorgenommen, sich mit Hebbel intensiver auseinanderzusetzen: „Ich will jetzt die einzeln. Dramen durchdenken und meine Gedanken hier aufschreiben. Dann will ich die Hebbelsch<en> Dramen kennen lernen“ (Nachlass 1864/65, 21[1], KGW I 4.7). Dass er dies tat, belegt der Bericht über eine Aufführung von Hebbels Nibelungen (1861), die er sich im Bonner Theater im Februar 1865 angeschaut hat,[44] sowie Exzerpte von sechs Hebbel-Gedichten (Traum und Poesie, Dichterloos, Wirbel des Seins, Die menschliche Gesellschaft, Gewissensfrage, Verwunderung und Auflösung), die im Nachlass mehrheitlich scheinbar beziehungslos überliefert sind (Nachlass 1870/71, 7[179], KSA 7.210; 7[198], KSA 7.214; und Nachlass 1871, 11[1], KSA 7.355),[45] von denen jedoch tatsächlich fünf zu Schlüsselstellen der Geburt der Tragödie untergründige Beziehungen unterhalten, die zutage treten, wenn man sich mit dem Erstdruck und seinen Vorstufen befasst. Traum und Poesie und Dichterloos haben wir bereits in Augenschein genommen, betrachten wir nun die noch fehlenden drei.[46]

VII Die Spuren Hebbels 3: Im Wirbel des Seins

Nimmt man die Fährte auf und verfolgt sie konsequent, führt sie zu weiteren erstaunlichen Entdeckungen. Schauen wir uns hierzu das Vorwort an Richard Wagner an, in dem sich ebenfalls nur im Erstdruck eine weitere Anspielung auf Hebbels nihilistische Weltsicht findet. Es solle

bei einem wirklichen Lesen dieser Schrift, zu ihrem Erstaunen deutlich werden, mit welchem ernsthaft deutschen Problem wir zu thun haben, das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als einen »Wirbel ihres Seins«, hingestellt wird. Vielleicht aber wird es für eben dieselben überhaupt anstössig sein, ein ästhetisches Problem so ernst zu nehmen, falls sie nämlich in der Kunst nicht mehr als ein lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel zum »Ernst des Daseins« zu erkennen im Stande sind: als ob Niemand wüsste, was es bei dieser Gegenüberstellung mit einem solchen »Ernste des Daseins« auf sich habe (GT 1872, Vorwort an Richard Wagner, IV, meine Hervorhebung).

In der zweiten Auflage heißt es hingegen:

[…] mit welchem ernsthaft deutschen Problem wir zu thun haben, das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als Wirbel und Wendepunkt hingestellt wird. Vielleicht aber wird es für eben dieselben überhaupt anstössig sein ein aesthetisches Problem so ernst genommen zu sehn, falls sie nämlich in der Kunst nicht mehr als ein lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel zum „Ernst des Daseins“ zu erkennen im Stande sind: als ob Niemand wüsste, was es bei dieser Gegenüberstellung mit einem solchen „Ernste des Daseins“ auf sich habe (GT, Vorwort an Richard Wagner, meine Hervorhebung).

Die zweite der in der Version von 1872 als Zitat ausgewiesenen Formeln („Ernst des Daseins“) stammt, was bislang noch niemand aufgefallen zu sein scheint, aus Wagners Schrift Über das Dirigieren[47] – sie wird in der zweiten Auflage als Zitat beibehalten. Den wie ein alles verschlingender zentraler Strudel erscheinenden „Wirbel ihres Seins“ jedoch, den Nietzsche mit seiner Schrift seinen „wirklichen“ Lesern vor Augen führen will, in dem er diese inmitten ihrer patriotischen Hoffnungen mit einem „ernsthaft deutsche[n] Problem“ konfrontiert, ersetzt er 1874/78 durch die in Wagner-Manier unrein stabgereimte, explizit optimistische Zwillingsformel „Wirbel und Wendepunkt“ – dies obwohl es dann später zur stilistisch unschönen und inhaltlich schiefen Wiederholung im Text kommt, wenn es heißt, es gelte „in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen“ (GT 15, KSA 1.100). Offenbar soll jetzt deutlich gemacht werden, dass Wagner die Wende bringen wird. Das Zitat „Wirbel ihres Seins“ jedoch geht auf Friedrich Hebbels Gnome Der Wirbel des Seins zurück! Sie lautet: „Denke dir einmal das Nichts! Du denkst es dir neben dem Etwas! / Aber, da denkst du’s dir nicht! Hier ist der Wirbel des Seins.“

Giuliano Campioni hat diese Quelle anhand einer ersten Fassung des Vorworts an Richard Wagner nachgewiesen:

Daß wir aber mit einem ernsthaften Problem zu thun haben, muß dem wohl- und übelgesinnten Leser zu seinem Erstaunen deutlich werden, wenn er sieht, wie Himmel und Hölle zu seiner Erklärung in Bewegung gesetzt werden müssen, und wie wir zum Schlusse genöthigt sind jenes Problem recht eigentlich in die Mitte der Welt, als einen „Wirbel des Seins“ hinzustellen (Nachlass 1871, 11[1], KSA 7.351).[48]

Entgangen war aber selbst ihm, dass das Hebbel-Zitat in leicht abgewandelter Form auch in den Erstdruck der Geburt der Tragödie einwanderte. In der Vorstufe liegt der „Wirbel des Seins“ sogar noch im Zentrum der Welt als das mit dem Verstand nicht zu fassende Problem, wie man ein echtes und falsches Verständnis der „griechischen Heiterkeit“ auseinanderhalten kann. In Hebbels Distichon, das Nietzsche hier anzitiert, wird dem Verstand beim Versuch, das Nichts zu denken, schwindelig.[49] Denkend wird man das chaotische Wesen der Welt nicht ergründen. Nur die Poesie vermag den „Wirbel des Seins“, in den man hier gerät, einzufangen. In der gedruckten Kurzversion des Vorworts an Wagner schwingt in der Erstausgabe diese gnomische Botschaft für jene Leser mit, die das Zitat erkennen und im Geiste vervollständigen können. Bereits in der zweiten Auflage tritt an die Stelle der dichterischen Erkenntnis der Verweis auf Wagners Kompositionen.

Nietzsches frühe Überlegungen zum „Wirbel des Seins“ suchen auf erstaunliche Weise die Nähe zu Hebbels Poetik des Nichts, die dieser in vielen seiner Texte entfaltet hatte, wie z. B.: „Zeriss der Faden nicht, der Gott und Welt / Zusammenknüpft? / Dreht sich die Schöpfung nicht / In tollen Wirbeln, losgelassen, um?“[50]

Ein weiteres Epigramm, das in der zeitgenössischen Ausgabe von Hebbels Gedichten direkt bei den von Nietzsche zitierten steht, stellt unter dem Titel Philosophie und Kunst klar: „Ein System verschlingt das and’re, doch neben dem Shakespeare, / Jung und frisch, wie der Mai, wandelt noch immer Homer.“[51] Gegen das Systemdenken, das ohne Ende ein System aufs andere folgen lässt, setzt Hebbel ein mit Phantasie verbundenes, anschauungsgesättigtes Denken, das allein den Künstler auszeichne – und hierin folgt ihm der Eingangssatz der Geburt der Tragödie, der die „unmittelbare[] Sicherheit der Anschauung“ der „logischen Einsicht“ zur Seite stellt, um erst so zur „aesthetische[n] Wissenschaft“ (GT 1, KSA 1.25) zu gelangen. In diese Richtung weisen auch einige Notate aus der Entstehungszeit der Geburt der Tragödie, in der die Philosophie als „eine Form der Dichtkunst“ (Nachlass 1872/73, 19[62], KSA 7.439) bezeichnet wird. Auch die „Bändigung der Wissenschaft“ geschehe „jetzt nur noch durch die Kunst […]. Ungeheure Aufgabe und Würde der Kunst in dieser Aufgabe! Sie muß alles neu schaffen und ganz allein das Leben neu gebären!“ (19[36], KSA 7.428) Auch das ist ein Gedanke, der sich bereits bei Hebbel findet, allerdings in dessen Tagebüchern, die zuerst 1885 bis 1887 erschienen und allenfalls in Auszügen Nietzsche durch Emil Kuhs Hebbel-Biographie[52] bekannt sein konnten: „Dichten heißt nicht: Leben-Entziffern, sondern Leben-Schaffen!“[53]

VIII Die Spuren Hebbels 4: Das Künstlergenie

Doch damit nicht genug. Wie wichtig Hebbel für seine Tragödienschrift war, wollte Nietzsche überdies in der ersten längeren Entwurfsfassung des Vorworts an Richard Wagner durch ein weiteres Zitat noch mehr herausstreichen:

Glaubt wirklich Jemand, daß eine Statue des Phidias wahrhaft vernichtet werden könne, wenn nicht einmal die Idee des Steins, aus der sie gefertigt war, zu Grunde geht? Und wer möchte bezweifeln, daß die griechische Heroenwelt nur des einen Homer wegen dagewesen ist? Und um mit einer tiefsinnigen Frage Friedrich Hebbel’s zu schließen:

  Machte der Künstler ein Bild und wüßte, es dauere ewig,

  Aber ein einziger Zug, tief wie kein and’rer, versteckt,

  Werde von keinem erkannt der jetz’gen und künftigen Menschen,

  Bis an’s Ende der Zeit, glaubt ihr, er ließe ihn weg?

Aus alledem wird klar, daß der Genius nicht der Menschheit wegen da ist: während er allerdings derselben Spitze und letztes Ziel ist. Es giebt keine höhere Kulturtendenz als die Vorbereitung und Erzeugung des Genius. Auch der Staat ist trotz seines barbarischen Ursprungs und seiner herrschsüchtigen Geberden nur ein Mittel zu diesem Zweck. (Nachlass 1871, 11[1], KSA 7.354 f.)[54]

Nietzsche nennt Hebbels Frage „tiefsinnig“, und das Epigramm Traum und Poesie bezeichnete er ebenfalls als „tief“. Im Lichte der Geburt der Tragödie („Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe“, FW, Vorrede 4) ist dieses Attribut keine Floskel, sondern Nietzsches Lieblingsformel für das Wissen um den schrecklichen Urgrund, der unter der in Träumen und Illusionen befangenen Welt liegt. Die genialischen Dichter werfen zuweilen einen Blick in die Tiefe, denn sie beherzigen gerade nicht die berühmte Mahnung von Hebbels Kandaules: „nimmer rühre an den Schlaf der Welt“.[55]

Hebbels Verse leiten Nietzsche zu einer Apotheose des Genies, das kompromisslos für die Kunst lebt, auch wenn diese von den Zeitgenossen und den zukünftigen Generationen nicht wahrhaft erkannt wird. Der Zweck der Menschheit sei nicht im Volk, sondern einzig „in ihren Spitzen, in den großen ‚Einzelnen‘, den Heiligen und Künstlern“ zu suchen. Dieses Ziel aber läge außerhalb der Zeit.[56] Die Bemerkung ist erhellend, denn es steckt in ihr auch ein Hinweis auf Hebbels Dramentheorie, auf die noch zurückzukommen sein wird.

IX Die Spuren Hebbels 5: „die entsetzliche Constellation der Dinge“

Wer nicht davor zurückscheut, noch tiefer ins Dickicht der Vorstufen vorzudringen, den wird die Fährte zur allgemeinen Verwunderung auch an Stellen zu Hebbel führen, die auf den ersten Blick nichts mit ihm zu tun zu haben scheinen. Schauen wir uns hierzu eine der berüchtigtsten Passagen[57] aus der Geburt der Tragödie an, in welcher Nietzsche die Notwendigkeit des Sklaventums darlegt:

Man soll es merken: die alexandrinische Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer optimistischen Betrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönen Verführungs- und Beruhigungsworte von der „Würde des Menschen“ und der „Würde der Arbeit“ verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung entgegen (GT 18, KSA 1.117).

In einer Vorstufe ging diesem herben ,Merksatz‘ noch eine allgemeine Überlegung voraus, welche nicht in die Geburt der Tragödie, doch in einer der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern (Der griechische Staat) (1871) in einprägsamen Formulierungen Eingang fand:

Was in dieser entsetzlichen Constellation der Dinge leben will das heißt leben muß, ist im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruches, muß also in unsrer Augen „welt- und erdgemäß Organ“ fallen als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also als Werden. Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen Leben und Morden ist eins (CV 3, KSA 1.768 f.).[58]

All dies verweise auf den „geheimnißvollen Zusammenhang, den wir hier zwischen Staat und Kunst, politischer Gier und künstlerischer Zeugung, Schlachtfeld und Kunstwerk ahnen“. Man sehe, „mit welcher mitleidlosen Starrheit die Natur, um zur Gesellschaft zu kommen, sich die grausamen Werkzeuge des Staates schmiedet“. Daher sei „unter Staat nur die eiserne Klammer, die den Gesellschaftsprozeß erzwingt“ (CV 3, KSA 1.772), zu verstehen.

Anhand von Hebbels Gewissensfrage hatte Nietzsche auf den Zusammenhang von Kunst und Politik hingewiesen und den Staat als Mittel zum Zweck der Erzeugung des Genies bestimmt. Aber auch das Thema der Grausamkeit von Staat und Gesellschaft verbindet ihn mit Hebbel. Dieser Bezug zeigt sich besonders deutlich, wenn wir uns die mit Abstand eindrucksvollste Ausführung dieses Gedankens im bereits erwähnten Manuskript UZ (§ 8) anschauen, denn nur dort taucht an zentraler Stelle, die wiederum eine Vorstufe zu dem gerade zitierten Passus aus der Geburt der Tragödie darstellt, Hebbel wieder namentlich auf. Es geht hier um die Bestimmung des tragischen Kerns der gesamten „Artistenmetaphysik“, des zerrissenen Ur-Einen als schrecklichen Urgrund, dessen Lebensgier alle menschlichen Institutionen sich unterwirft und diese in grausame Ungeheuer verwandelt, welche die Menschen vampirhaft aussaugen:

Was in dieser entsetzlichen Konstellation der Dinge leben will d. h. leben muß, Mensch, Staat, Kultur, Religion⌊,⌋ [das ist ein zähnefletschendes Raubthier, das von Raub und Mord [lebt] sein Dasein fristet, das die Lebenssäfte anderer Wesen aussaugt] ⌊⌈ist ⌈uns also,⌉ im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerze<s> u. Urwiderspruchs, muß⌉⌋ ⌈hat im Grunde seines Wesens jene unersättliche Gier zum Dasein, die es nur an andern Individuen [zu] befriedigen zu können wähnt.⌉ ⌈| In diesem herben Sinn [sagt] ⌈erdet⌉ der tiefe Hebbel [in einem Sonet] die Gesellschaft also an: #⌉ ⌈muß also in unser Auge „welt<-> u. erdgemäß Organ<“> als „Wille“ und ⌈unersättl<.>⌉ Gier zum Dasein fallen⌉<.> ⌈[es ist] ⌈Darum dürfen wir die herrliche Kultur mit⌉ ein⌈em⌉ ⌊bluttriefender <bluttriefenden> Sieger ⌈vergleichen⌉⌉, d[as]⌈er⌉ ⌈die⌉ an seinem Wagen gefesselte<n> Sklaven mitschleppt[, denen]⌈; als welchen⌉ eine wohlthätige Macht die Augen verblendet hat, so daß sie von den Rädern des Wagens fast zermalmt rufen „Würde der Arbeit! Würde des Menschen! (U I 2, 53 f., KGW III 5/1.148, meine Unterstreichungen)

Nietzsche verweist hier explizit auf das eindringliche leviathanische Sonett Die Gesellschaft des „tiefe[n] Hebbel“, dessen Schlussterzett er sich separat exzerpiert hatte (Nachlass 1870/71, 7[198], KSA 7.214) und das vollständig lautet:

Wenn du verkörpert wärst zu einem Leibe

Mit allen deinen Satzungen und Rechten,

Die das Lebendig-Freie schamlos knechten,

Damit dem Todten diese Welt verbleibe;

Die gottverflucht in höllischem Getreibe,

Die Sünden selbst erzeugen, die sie ächten,

Und auf das Rad den Reformator flechten,

Daß er die alten Ketten nicht zerreibe:

Da dürfte dir das schlimmste deiner Glieder,

Keck, wie es wollte, in die Augen schauen,

Du müßtest ganz gewiß vor ihm erröthen!

Der Räuber braucht die Faust nur hin und wieder,

Der Mörder treibt sein Werk nicht ohne Grauen,

Du hast das Amt, zu rauben und zu tödten[59]

Schlimmer und grausamer als die Verbrecher, die nur bei Gelegenheit rauben und morden, ist die Gesellschaft, in der sie leben, da diese das Morden und Rauben zu ihrem Prinzip gemacht hat und zugleich über alle Machtmittel verfügt, das Schrecklichste auszuführen. Hebbels Gedicht gemahnt an die spätere Personifikation des Staates in Nietzsches Zarathustra (1883–85) als das „kälteste aller kalten Ungeheuer“, „wo Alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo Alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord Aller – „das Leben“ heisst“ (Za I, Vom neuen Götzen, KSA 4.61 f.). Das Ausleben der Daseinsgier in der Mordlust nimmt Nietzsche aber auch in einem zeitgleich zur Geburt der Tragödie entstandenen Gedicht An die Melancholie[60] auf: „Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst: / Qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen!“ (Nachlass 1871, 15[1] KSA 7.390)

All das sind fundamentale Reflexionen zur politischen Dimension der Tragödientheorie, die nicht in die Geburt der Tragödie aufgenommen wurden, aber die unter Verweis auf Hebbel die Kontexte erhellen, in denen Nietzsches frühe Ansichten zur Sklaverei sich bildeten. In UZ wird sichtbar, dass Nietzsche nicht einfach die Notwendigkeit des Sklaventums aus der Perspektive der Griechen rechtfertigt, sondern zuvörderst die grausame Unterdrückung der Menschen durch die Ungeheuer Staat und Gesellschaft eindringlich vor Augen stellt.

X „Ohne Hebbel kein Nietzsche!“[61] Pantragismus und Artistenmetaphysik

Nachdem gleich fünf mehr oder wenig direkte, aber jeweils eindeutige Bezüge zwischen der Geburt der Tragödie und Hebbels Lyrik aufgewiesen werden konnten, liegt es nahe, auch einen tiefergehenden Einfluss von Hebbels Tragödien und seiner Poetik auf Nietzsches Tragödienschrift zu vermuten. Denn bereits Hebbels Dramentheorie überführt das antike Tragödienmodell in die nihilistische Moderne: Da die Ideen in einer entgötterten Welt selbst fraglich geworden sind,[62] legt sie dem Tragischen keinen Konflikt metaphysisch gerechtfertigter Prinzipien mehr zugrunde.[63] Die Helden sterben nicht mehr für Ideen, sondern sie sterben, weil es keine Ideen mehr gibt, an deren Wahrheit man glauben könnte. Ihr Sollen wird zum bloßen Wollen. Die neue Tragik in der ordnungslosen Welt resultiert daher nun aus den Antagonismen von Individuum und Lebensganzem, von Werden und Sein, von Fließen und Erstarrung, von Leben und Form, von Schmerz und Kunst, Wollust und Grausamkeit, von Unbewussten und Bewussten, von Vereinzelung und Welt.[64] Es würden sich so im „höchsten Drama“ „die dualistischen Ideenfaktoren, aus deren Aneinanderprallen der das ganze Kunstwerk entzündende schöpferische Funke hervorspringt, zu Charakteren verdichten“,[65] deren Untergang unvermeidlich ist, da sie sich in ihrer Maßlosigkeit vom Lebensganzen separieren. In den treffenden Worten Klaus Zieglers:

Aber eben damit kennzeichnet Hebbel als ihren entscheidenden Kern die Auflösung aller objektiv gültigen Ordnungen durch die sich selber autonom und absolut setzende Subjektivität des menschlichen Bewußtseins – ein Emanzipations- und Destruktionsvorgang, mit dessen Vollzug der Mensch aber unweigerlich einem zutiefst ordnungslosen Chaos zum Opfer fallen muß.[66]

Daher führt nach Hebbel der Untergang des tragischen Helden nicht zur Rettung und zum Ausgleich widerstreitender gleichberechtigter Prinzipien oder Ideen, auch nicht zu einem schopenhauerschen Quietiv des Willens,[67] sondern im Leben selbst, also vorgängig zum im tragischen Kunstwerk geschürzten Konflikt und unabhängig vom Handeln der Helden, liegt die Tragik begründet.[68] Im Kontrast zu Schopenhauer, der den Willen als einheitlichen Urgrund der Welt bestimmt, der mit sich selbst erst auf der Ebene der Vorstellung infolge der divergierenden Willensbestrebungen von Individuen in Widerstreit gerät, ist für Hebbel just wie für Nietzsche das Leben als Grund allen Daseins per se widersprüchlich. Doch es begreifen die Helden nicht, welches Gesetz des Lebens ihren Untergang unausweichlich herbeiführt, sie durchschauen nicht, dass das in sich zwiespältige Leben selbst die Individuation erzwingt, die zu Fixierungen führt, die auf Dauer nicht zu halten sind, da sie in Widerspruch mit dem Fluss des Lebens geraten und daher wieder zerbrechen müssen:

Diese [sc. die tragische] Schuld ist eine uranfängliche, von dem Begriff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende; sie ist mit dem Leben selbst gesetzt. Sie zieht sich als dunkelster Faden durch die Überlieferungen aller Völker hindurch und die Erbsünde selbst ist nichts weiter, als eine aus ihr abgeleitete, christlich modifizierte Konsequenz.[69]

Mit der Vereinzelung ist den Menschen vom Leben selbst die Maßlosigkeit eingepflanzt.[70] Wie bei Nietzsche vollzieht sich eine Selbstaufhebung des Lebens durch die Verabsolutierung und Verselbständigung jener Kräfte, die durch das Schaffen von Ordnungen gerade auf Bewahrung und Selbsterhaltung aus sind.[71] Seit Arno Scheunert hat sich die Bezeichnung „Pantragismus“[72] für Hebbels Poetik in der Forschung etabliert, die, wie es ein Titel eines seiner Gedichtzyklen von 1857 ausspricht, Dem Schmerz sein Recht zu geben versucht. Doch wie kann dies der Kunst gelingen?

In Mein Wort über das Drama! (1843) erklärt Hebbel gleich zu Beginn, dass das permanent sich wandelnde Leben sich nie in künstlerischen Formen adäquat einfangen lässt. Es gebe vielmehr einen unauflöslichen Widerspruch:

Die Kunst hat es mit dem Leben, dem innern und äußern, zu tun, und man kann wohl sagen, daß sie beides zugleich darstellt, seine reinste Form und seinen höchsten Gehalt. Die Hauptgattungen der Kunst und ihre Gesetze ergeben sich unmittelbar aus der Verschiedenheit der Elemente, die sie im jedesmaligen Fall aus dem Leben herausnimmt und verarbeitet. Das Leben erscheint aber in zwiefacher Gestalt, als Sein und als Werden, und die Kunst löst ihre Aufgabe am vollkommensten, wenn sie sich zwischen beiden gemessen in der Schwebe erhält. Nur so versichert sie sich der Gegenwart, wie der Zukunft, die ihr gleich wichtig sein müssen, nur so wird sie, was sie werden soll, Leben im Leben; denn das Zuständlich-Geschlossene erstickt den schöpferischen Hauch, ohne den sie wirkungslos bliebe, und das Embryonisch-Aufzuckende schließt die Form aus.[73]

Nun habe aber das Drama die Aufgabe, „den Lebensprozeß an sich“ darzustellen, wobei es

uns das bedenkliche Verhältnis vergegenwärtigt, worin das aus dem ursprünglichen Nexus entlassene Individuum dem Ganzen, dessen Teil es trotz seiner unbegreiflichen Freiheit noch immer geblieben ist, gegenübersteht. Das Drama ist demnach, wie es sich für die höchste Kunstform schicken will, auf gleiche Weise ans Seiende, wie ans Werdende verwiesen: ans Seiende, indem es nicht müde werden darf, die ewige Wahrheit zu wiederholen, daß das Leben als Vereinzelung, die nicht Maß zu halten weiß, die Schuld nicht bloß zufällig erzeugt, sondern sie notwendig und wesentlich mit einschließt und bedingt; ans Werdende, indem es an immer neuen Stoffen, wie die wandelnde Zeit und ihr Niederschlag, die Geschichte, sie ihm entgegenbringt, darzutun hat, daß der Mensch, wie die Dinge um ihn her sich auch verändern mögen, seiner Natur und seinem Geschick nach ewig derselbe bleibt. Hierbei ist nicht zu übersehen, daß die dramatische Schuld nicht, wie die christliche Erbsünde, erst aus der Richtung des menschlichen Willens entspringt, sondern unmittelbar aus dem Willen selbst, aus der starren eigenmächtigen Ausdehnung des Ichs, hervorgeht, und daß es daher dramatisch völlig gleichgültig ist, ob der Held an einer vortrefflichen oder einer verwerflichen Bestrebung scheitert.[74]

Es muss somit Hebbel zufolge das Tragische in der Besinnung „auf das Ewige und Unvergängliche im zerschmetterten Individuum“[75] zutage treten, und es kann die tragische „Versöhnung“ allein durch den Untergang des vom Leben selbst zur Maßlosigkeit bestimmten Individuums erreicht werden. Auch für Hebbel wird die Tragödie so zum „Modell einer ästhetischen Sinngebung.“[76]

Hat man einmal Hebbels Worte im Sinn, so hört man in Nietzsches Geburt der Tragödie unverkennbar ihren Widerhall gerade dort, wo auch er den tragischen Konflikt im zerrissenen und chaotischen Urgrund der Welt selbst lokalisiert, der in Widerspruch zur Erscheinungswelt tritt und dabei das „starre Gesetz der Individuation“ (GT 9, KSA 1.66) immer wieder bricht. Abermals scheinen hierbei die Verse aus Hebbels Traum und Poesie-Epigramm über die ineinander eingesponnenen Welten anzuklingen:

Das Unheil im Wesen der Dinge […], der Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als Durcheinander verschiedener Welten, z. B. einer göttlichen und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber als einzelne neben einer anderen für ihre Individuation zu leiden hat. Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet er [der Held] an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch d. h. er frevelt und leidet (GT 9, KSA 1.69 f.).

Gerade Nietzsche hat die Konsequenz in all ihrer Furchtbarkeit empfinden gelernt, dass die dionysische Maßlosigkeit, welche das Leiden verschuldende apollinische Individuationsprinzip sprengt, zur Selbstaufhebung des Individuums führt:

Diese Vergöttlichung der Individuation kennt […] nur Ein Gesetz, das Individuum d. h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums, das Maass im hellenischen Sinne. […] Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus (GT 4, KSA 1.40 f.).

Im Schmerz des Menschen manifestiert sich der Urwiderspruch der Welt.[77] Kunst und Wissenschaft können hier keine Abhilfe schaffen, im Gegenteil. In der Antike wurde die „auf den Schein und die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt“ eingerissen, wenn in diese „der ekstatische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang“ und das „Uebermaass der Natur in Lust, Leid und Erkenntniss, bis zum durchdringenden Schrei, laut wurde.“ Sogar dieser in den Abgrund lockende „dämonische Volksgesang“ präludiert in Hebbels lyrischer Beschwörung ozeanischer Gefühle[78] ebenso wie das dionysische Verschmelzen des Individuums mit dem Kollektiv im orgiastischen Rausch.[79] Und klingen in Nietzsches rhetorischer Frage, ob das Gespinst der Kunst, Religion und Wissenschaft das verflatternde Sein umhüllen kann oder zwangsläufig ‚im Wirbel des Seins‘ zerreißen muss, nicht wieder unüberhörbar Hebbels Verse aus Traum und Poesie mit?

Wird das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt „die Gegenwart“ nennt, in Fetzen zu reissen? – (GT 15, KSA 1.102)

XI Tragisches Erkennen

Wie bereits zitiert, formulierte Hebbel die Nietzsches tragischem Denken analoge Einsicht, dass jede Form, auch jene der Kunst, das fließende Leben in ein starres Korsett zu zwingen versucht, also prinzipiell unangemessen ist, dabei falsche, d. h. nur scheinbare Ordnungen erzeugt, die dazu bestimmt sind, wieder aufgelöst zu werden. Der sich so ergebende Widerspruch ist im Leben selbst angelegt, es ist der Urwiderspruch alles Lebendigen, den Nietzsche später mit seinem Begriffspaar des Dionysischen und Apollinischen anschaulicher zu explizieren versteht:

Aber der Inhalt des Lebens ist unerschöpflich, und das Medium der Kunst ist begrenzt. Das Leben kennt keinen Abschluß, der Faden an dem es die Erscheinungen abspinnt, zieht sich ins Unendliche hin, die Kunst dagegen muß abschließen, sie muß den Faden, so gut es geht, zum Kreis zusammenknüpfen, und dies ist der Punkt, den Goethe allein im Augen haben konnte, als er aussprach, daß alle ihre Formen etwas Unwahres mit sich führten. Dies Unwahre läßt sich freilich schon im Leben selbst aufzeigen, denn auch dieses bietet keine einzige Form dar, worin alle seine Elemente gleichmäßig aufgehen.[80]

Ist das Drama so konzipiert, dann sind auch keine klassischen Tragödien-Schlüsse mehr möglich. Die durch die Tragödie vermittelte Erkenntnis ist nurmehr eine negative Erkenntnis:

Das Drama, wie ich es konstruiere, schließt keineswegs mit der Dissonanz, denn es löst die dualistische Form des Seins, sobald sie zu schneidend hervortritt, durch sich selbst wieder auf; es stellt, wenn ein Gleichnis erlaubt ist, die beiden Kreise auf dem Wasser dar, die sich eben dadurch, daß sie einander entgegenschwellen, zerstören, und in einem einzigen großen Kreis, der den zerrissenen Spiegel für das Sonnenbild wieder glättet, zergehen. Aber es läßt allerdings eine Dissonanz unerledigt, und zwar die ursprüngliche Dissonanz, die es von Anfang an überging; indem es die Vereinzelung, ohne nach der causa prima zu forschen, als mit oder ohne Kreation unmittelbar gegebenes Faktum hinnahm. Es läßt daher nicht die Schuld unaufgehoben, wohl aber den inneren Grund der Schuld unenthüllt. Doch dies ist die Seite, wo das Drama sich mit dem Weltmysterium in ein und dieselbe Nacht verliert.[81]

Auch in Nietzsches Geburt der Tragödie bleibt der tragische Urgrund ein „Weltmysterium“, das weder durch die Kunst noch philosophisch ausgelotet werden kann, da auch die Verstandesordnungen nur falsche Fixierungen darstellen. Die sokratische Wissenschaft sei mehr noch eine „tiefsinnige Wahnvorstellung“, bestehend im „unerschütterliche[n] Glaube[n], dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei“ (GT 15, KSA 1.99). Ähnlich bescheinigte auch Hebbel Newton, endlich als Greis begriffen zu haben: „Daß man die Tiefe der Welt durch den Kalkül nicht erschöpft.“[82]

Den Untergang der antiken Tragödie führt Nietzsche bekanntlich darauf zurück, dass das apollinische Prinzip durch Sokrates radikalisiert wird und so dem Dionysischen eine neue, weit mächtigere Gegenkraft erwächst. Euripides schleuse die verstandesorientierten Wertmaßstäbe des Sokrates in die Tragödie ein, und an diesem „aesthetischen Socratismus“ sei das tragische Kunstwerk der Antike zugrunde gegangen (GT 12). Genau darin, im Reflexiv-Werden des antiken Dramas, erkannte Hebbel die Ursache von dessen Ende. Insbesondere Hebbels Vorwort zur Maria Magdalena (1843) versammelt gleich mehrere dramentheoretische Gesichtspunkte sowie Einsichten über das Zuviel an Reflexion bei Ödipus und Hamlet, die von Nietzsche (vgl. z. B. GT 7 und 9) weiter ausgearbeitet werden:

Bis jetzt hat die Geschichte erst zwei Krisen aufzuzeigen, in welchen das höchste Drama hervortreten konnte, es ist demgemäß auch erst zwei Mal hervorgetreten: einmal bei den Alten, als die antike Welt-Anschauung aus ihrer ursprünglichen Naivetät in das sie zunächst auflockernde und dann zerstörende Moment der Reflexion überging, und einmal bei den Neuern, als in der christlichen eine ähnliche Selbst-Entzweiung eintrat. Das griechische Drama entfaltete sich, als der Paganismus sich überlebt hatte, und verschlang ihm, es legte den durch alle die bunten Götter-Gestalten des Olymps sich hindurchziehenden Nerv der Idee bloß, oder, wenn man will, es gestaltete das Fatum. Daher das maßlose Herabdrücken des Individuums, den sittlichen Mächten gegenüber, mit denen es sich in einen doch nicht zufälligen, sondern notwendigen Kampf verstrickt sieht, wie es im Oedip den Schwindel erregenden Höhepunkt erreicht. Das Shakespearsche Drama entwickelte sich am Protestantismus und emanzipierte das Individuum. Daher die furchtbare Dialektik seiner Charaktere, die, soweit sie Männer der Tat sind, alles Lebendige um sich her durch ungemessenste Ausdehnung verdrängen, und soweit sie im Gedanken leben, wie Hamlet, in ebenso ungemessener Vertiefung in sich selbst durch die kühnsten entsetzlichsten Fragen Gott aus der Welt, wie aus einer Pfuscherei, herausjagen mögten.[83]

Hebbels radikaler Pessimismus grundiert als Subtext den Erstdruck der Geburt der Tragödie vor allem aber dort, wo Nietzsche die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung bestreitet, da letztlich unter der illusorischen Oberfläche des bewussten Daseins das in sich zerrissene Ur-Eine die eigentliche Regie führe. Das Leben wird als letzte Instanz gesetzt, aber nicht das Leben des Einzelnen, das dem Untergang geweiht ist.[84] Ebenso ist nach Hebbel das Individuum in seiner Selbsterkenntnis limitiert, denn „alles Individuelle“ sei „nur ein an dem Einen und Ewigen hervor tretendes und von demselben unzertrennliches Farbenspiel.“[85] Der Mensch habe von sich keine Ahnung, es bleibe ihm nicht übrig als, „mitten unter den ungeheuersten Kräften, die ihn umbrausen, mit verbundenen Augen allein zu stehen und doch das lösende Zauberwort auf der Lippe zu fühlen, das ist des Menschen schweres Loos. Ein Schiffer in der Sturmnacht auf unbekanntem Gewässer.“[86] Entsprechend ist in Nietzsches Geburt der Tragödie das Durchschauen des Scheins nur eingeschränkt möglich, weil „freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein andres [sei] als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben“ (GT 5, KSA 1.47).

Wirft der Mensch jedoch zuweilen, wenn der Schleier der Illusionen[87] kurz einmal durchlässig wird, einen Blick in den vollkommen sinnlosen Urgrund seiner Existenz, so wird er ob der Unerträglichkeit dieser Einsicht zugrunde gehen – und auch dieses für die Geburt der Tragödie so zentrale Motiv der Tödlichkeit der Wahrheit (GT 7, KSA 1.57) findet sich bei Hebbel präfiguriert:

Das Leben ist eine furchtbare Nothwendigkeit, die auf Treu und Glauben angenommen werden muß, die aber keiner begreift, und die tragische Kunst, die, indem sie das individuelle Leben der Idee gegenüber vernichtet, sich zugleich darüber erhebt, ist der leuchtendste Blitz des menschlichen Bewußtseins, der aber freilich Nichts erhellen kann, was er nicht zugleich verzehrt.[88]

Indes bestehe Nietzsche zufolge der metaphysische Trost der Tragödie mit dem Tod des Helden letztlich zu zeigen, „– dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei“ (GT 7, KSA 1.56). Im Gegensatz zu Schopenhauers Willensmetaphysik lässt sich für Nietzsche das Dasein des Menschen mit dem tragischen Untergang des Helden ästhetisch rechtfertigen (GT 24, KSA 1.153). So auch Hebbel, dessen Holofernes bekennt: „Darum ist einzig so schön, durchs Leben selbst zu sterben! Den Strom so anschwellen zu lassen, daß die Ader, die ihn aufnehmen soll, zerspringt! Die höchste Wollust und die Schauder der Vernichtung ineinander zu mischen!“[89] In Hebbels Bestimmung der „Versöhnung im Tragischen“ präludiert Nietzsches Auffassung des metaphysischen Trostes, denn auch diese geschehe

im Interesse der Gesammtheit, nicht in dem des Einzelnen, des Helden, und es ist gar nicht nöthig, obgleich besser, dass er sich ihrer selbst bewußt wird. Das Leben ist der große Strom, die Individualitäten sind Tropfen, die tragischen aber Eisstücke, die wieder zerschmolzen werden müssen und sich, damit dies möglich sei, an einander abreiben und zerstossen.[90]

Doch selbst wenn der Mensch im Untergang seine Vereinzelung zerstört, bleibt die Versöhnung unvollständig, denn „indem das Individuum trotzig und in sich verbissen untergeht“, zeigt es, „daß es an einem andern Punkt im Weltall abermals kämpfend hervortreten wird“, weshalb auch, wenn sich zeitweilig im Untergang der „Riß“ wieder schließe, es immer unverständlich bliebe, weshalb es überhaupt zu einem Riss gekommen sei.[91] In der Geburt der Tragödie spricht wiederum Nietzsche wie ein zweiter Hebbel vom „furchtbaren Eisstrome des Daseins“, in den sich der theoretische Mensch nicht mehr wage, da er nichts mehr mit „der natürlichen Grausamkeit der Dinge“ zu tun haben wolle (GT 18, KSA 1.119). In der dazugehörigen Vorstufe, in Kapitel 9 von Ursprung und Ziel der Tragödie, ist die Nähe zu Hebbels Bild noch greifbarer, wenn Nietzsche just nach seinem Verweis auf das Sonett Die menschliche Gesellschaft dem modernen Menschen bescheinigt, zu feige für eine tragische Weltsicht geworden zu sein. Der „Riss“ ist im Zeitalter der Moderne nicht mehr zu kitten:

Der moderne Mensch ist freilich an eine ganz andre verzärtelte Betrachtung der Dinge gewöhnt. Darum ist er ewig unbefriedigt, weil er niemals wagt, sich vollkommen dem furchtbaren eisstarrenden Strome des Daseins anzuvertraun: er läuft ängstlich am Ufer auf und ab. Die neuere Zeit mit ihrem „Bruche“ ist zu begreifen als die vor allen Konsequenzen zurückfliehende: sie will nichts ganz haben, ganz auch mit all der natürlichen Grausamkeit der Dinge (UZ, KGW III 5/1.148).

XII Beschluss

Kurzum, der Erstdruck der Geburt der Tragödie steht stärker im Zeichen einer dichterischen Metaphysik und weniger einer metaphysischen Ästhetik, er ist pessimistischer und sucht die Nähe zu Hebbels pantragischer und panillusionistischer Sicht auf das Schicksal des Individuums in der entgötterten Welt, während die späteren Ausgaben konsequent die Hinweise auf die zahlreichen Anleihen bei Hebbel tilgen und so dessen Einfluss verschleiern. Die zweite Auflage rückt Wagner noch mehr ins Zentrum. Nietzsche hatte während der Arbeit an den Manuskripten zur Geburt der Tragödie und während der Korrektur der ersten Auflage beständigen Austausch mit Wagner über seinen Text. Man kann vermuten, dass Wagner die Huldigungen an Hebbel nicht goutierte, schon gar nicht in dem ihm gewidmeten Vorwort, und dies vielleicht nicht nur aus Eitelkeit, sondern weil er die Poesie nicht der Musik gleichberechtigt zur Seite gestellt sehen wollte. Womöglich wollte aber auch Nietzsche selbst einen entscheidenden Anreger ungenannt lassen. Mit der dritten Ausgabe von 1886 indes distanziert sich Nietzsche wieder von Wagner, weshalb es ihm zu diesem Zeitpunkt nicht unlieb gewesen sein dürfte, dass ein kleinerer Teil dieser Edition noch den hebbelianisch gefärbten Erstdruck verbreitete. Ein Rätsel bleibt jedoch, warum Nietzsche nach dem Bruch mit Wagner in keiner seiner Schriften mehr auf Hebbel zurückkam, obgleich er ihn weiterhin gelesen zu haben scheint.[92] Hebbel bleibt verschwunden.

Es ist die erste Ausgabe der Geburt der Tragödie, die wir 150 Jahre nach ihrem Erscheinen endlich gleichberechtigt neben die späteren Drucke stellen und von nun an zum Ausgangspunkt unserer Studien machen sollten.

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Published Online: 2022-12-15
Published in Print: 2023-10-27

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